Kunst der Verunsicherung
Die Ordnung der Dinge
Seit seinen Ursprüngen im 15 Jh. hat das Stilleben immer auch unter anderen dazu gedient, seinen Produzenten die Welt in Ordnung zu bringen: Malerei der toten Natur als Methode, sich der Dinge und ihrer formalen Eigenschaften über räumliche Bezüge zu versichern, das allgegenwärtige Chaos des Banalen zu bändigen, die umgebende Welt als unbelebt sich verfügbar zu machen. Im mutwilligen Herstellen von Arrangements aus Gegenständen des Alltags liegt die Faszination, die selbsterzeugte Überschaubarkeit des Nächstliegenden durch künstlerische Verwandlung in Abbilder ihrer Gefährdung durch die Zeit zu entziehen und den Konsens zwischen den Dingen durch Anwendung ästhetischer Kriterien zu erzwingen.
Von der Unmöglichkeit, ein Stilleben zu malen
Seit Stefan S. Schmidt Stilleben malt, hat er mit zunehmender Konsequenz eine Position entwickelt, die jene mit der Bildgattung verbundenen traditionellen Ordnungsvorstellungen verleugnet und als heute unhaltbar gewordene enttarnt. Seine Versatzstücke des täglichen Lebens demonstrieren die Unfähigkeit der Kunst, einer komplex gewordenen Wirklichkeit mit tradierten Widerspiegelungsverfahren beikommen zu können. Wie bei ihm die Dinge liegen, entziehen sie sich dem Diktat des Malers. Es sperren sich die Objektkonfigurationen gegen die Fixierung durch eine ihnen auferlegte Ordnung. Gegen ihre Verurteilung zum stillen Dasein leisten die Gegenstände Widerstand und bescheiden sich nicht mit den ihnen zugewiesenen Plätzen. Das Stillhalteabkommen der Malerei mit ihren Objekten scheint bei Stefan S. Schmidt aufgekündigt. Statt sich tot zu stellen, gerät die Wirklichkeit ins Rutschen; das sorgsam Geschichtete entgleitet dem manipulativen Zugriff und beginnt den Schwerkraftgesetzen und anderen, dunkleren Mächten zu gehorchen. Die vom Maler in Beziehung zueinander gebrachten Restposten des Alltags verselbständigen sich hinter seinem Rücken, um auf Dachböden und in Abstellkammern ihr „Nächtliches Theater“ (1989) zu veranstalten.
Das Drama der inspirierten Objekte
Die abgelegten Gebrauchsobjekte in ihren prekären Lagen triumphieren über die Naivität des kulturellen Ordnungsstrebens, indem sie eine Revolte gegen den malerischen Bann anzetteln und ein unzuverlässiges Eigenleben entwickeln. Tot geglaubtes Material erwacht zu scheinbar bedeutungsvollem Gestikulieren, wenn z.B. in dem Tableau abgehängter Arbeitshandschuhe („Lob der Arbeit“ 1991) sich jedes Stück als Individuum gebärdet, das vehement seine Persönlichkeit behauptet. Diese Malerei fungiert als Strategie zur Verunsicherung eines scheinbar gefestigten Weltbilds, als Abbildung einer Wirklichkeit, in der jeder „Versuch, ein Stilleben zu arrangieren“ (1988) zum Zugeständnis an deren Labilität ausarten muss.
Die Wahrheit des Fragments
In seiner dreiteiligen „Stilleben-Fuge auf rundem Tisch“ (1989) hat Stefan S. Schmidt die Konsequenz gezogen: Nicht nur der Bildraum, das Bild selbst ist zerfallen. Zerstört ist eindeutig und nachhaltig die Illusion von der Kunst als Garantin eines ganzheitlichen Welterlebens. Und weitergemalt führt diese skeptische Grundhaltung gegenüber der Scheinhaftigkeit künstlerischer Wirklichkeitsinterpretation zu der jüngsten Serie der „Fragmentbilder“ und „Fragmenträume“. Hier nun ist die Welt endgültig aus den Fugen, wird aber neu gefügt und unter stets sich verändernden Blickwinkel neu verfügbar. Der konventionelle Bildaufbau ist zersplittert in die Facetten eines Spiegellabyrinths, die sich als Sehschlitze in eine vieldimensionale Realität öffnen: Ausblicke in ein tief gestaffeltes System paralleler Bildwelten und simultaner Wirklichkeitsebenen.
Zwischen den Bildern
Jedes Fragmentbild als Addition senkrechter Schnitte in die uns umstellenden Schichten vorgegebener An- und Absichten entsteht als Montage mehrerer extrem hochformatiger Paneele, die in rigorosen Ausschnitten disparate Bruchstücke eines Weltbildes anbieten. Zonen fotografischer Schärfe wechseln mit diffusen Formandeutungen, Nahsichten auf identifizierbare Objekte grenzen an gegenstandlose Farbfelder, helle Raumsegmente kontrastieren mit düsteren Kabinetten und verdichten sich zu Mutmaßungen über die Beschaffenheit einer Welt, die nicht mehr als Einheit erfahren werden kann. Praktiziert wird eine Ästhetik des Intervalls, in der – vergleichbar der Struktur des Comic Strips- das, was zwischen den Bildern liegt, wichtiger wird als das Bild selbst.
Welt im Spiegel
In seinen Bildplanken, hinter denen unbekannte Dimensionen warten, angefüllt mit Schatten von Personen und Ereignissen, mit Möglichkeiten anstelle von Behauptungen, hat der Maler die Suche nach dem verlorengegangenen Kontinuum von Raum und Zeit aufgegeben. Stattdessen praktizierte er gemalte Relativitätstheorie in Übereinstimmung mit neuesten physikalischen und philosophischen Weltdeutungsmodellen: simultane Ansichten über das, was an mehreren Orten zugleich der Fall sein könnte. Sein Realismus der Zwischenräume liefert bruchstückhafte Ahnungen einer Welt von nicht nur Doppel-, sondern Vielbödigkeit: Wahrnehmungsschneisen im einem Verhau aus verwobenen Perspektiven, wo hinter jeder Facette sich neuen Fluchten auftun, durchzogen von den Schatten und Reflexen einer Realität, die zu komplex geworden ist, um noch unter einheitlichem Gesichtspunkt abgebildet werden zu können.
Im Labyrinth zuhause
Stefan S. Schmidt lenkt den Blick in Zwischenwelten, in dämmrige Korridore mit divergierenden Fluchtpunkten, in unauslotbare Raumsituationen, durchhallt von den Echos der Erinnerung. Nachbilder von Erlebtem, Vorbilder von Kommendem, Ahnungen von Möglichem. Assoziationen werden geweckt, zerschellen aber sogleich wieder am angrenzenden Tor zu neuerlichen Geheimnissen. Damit formieren sich die diskontinuierlichen Bildteile zu einer Ästhetik der konstruktiven Verunsicherung, die konsequenter, ehrlicher und adäquater ist als andere Weltdeutungsmodelle in gegenwärtiger Kunsttheorie und Kunstpraxis: Denn wenn gesellschaftliche Sinnstiftungsangebote inflationär geworden sind, ist Irritation ein Orientierungsmittel, und wenn die Verwirrung grenzenlos ist, wird der Zerrspiegel zum angemessen Instrument der Erkenntnis.
Schnelle Schritte
Mit ihrer Kombinatorik des Disparaten spiegeln die fragmentierten Wirklichkeiten Stefan S. Schmidts aber auch die Bildstrukturen des Fernsehens und des Videoclips. Sie verlassen sich auf Sehgewohnheiten eingeübt an Medien, die gleichfalls das Unzusammenhängende in Zusammenhänge zwingen, um ihm Stringenz auszutreiben und pausenlose Verkettung des Zerstückten als Informationsvermittlung auszugeben. Das Programm als sinnvolle Abfolge von Bedeutungen ist vorüber; was bleibt, ist das Testbild der Wirklichkeit: das in Streifen aufgelöste Weltganze als Hilfsmittel zur Schärfung der Detailwahrnehmung.
„Wie schön das wäre, wenn wir in das Spiegelhaus hinüber könnten! Sicherlich gibt es dort, ach! so herrliche Dinge zu sehen! Tun wir doch so, als ob aus dem Glas ein weicher Schleier geworden wäre, dass man hindurchsteigen könnte“, schwärmt Alice, bevor sie im Wunderland hinter den Spiegel verschwindet…
Harald Kimpel